... was sonst noch passiert ...

Strassenszene bei Nacht. Nikon D4, 2,8/28-70 mm, Foto: Klaus Schoerner

Leben ist,

was sonst noch passiert,

während man auf gutes Licht wartet

 

Seit gefühlt zehn Jahren hängt er an meiner Pinwand: dieser Spruch, den ich irgendwann mal irgendwo gelesen habe. Seine Bedeutung für mich hat sich im Lauf der Jahre gewandelt ...

Anfangs war es die durchaus sarkastische Erkenntnis, dass man als Fotograf beim manchmal ewig erscheinenden Warten auf die richtigen Aufnahmebedingungen viel verpasst. Dass Freunde oder Bekannte ein schönes Motiv oder eine angenehme Situation einfach genießen können, ohne sich mit Kamera-Equipment zu belasten oder sich mit der Suche nach dem richtigen Blickwinkel zu quälen. Dass man selbst währenddessen fast unter Zwang und mit erheblichem Anspruch an die Qualität des Ergebnisses versucht, ein Bild zu erstellen, welches der Realität gerecht wird, und dabei von dem eigentlichen Ereignis kaum etwas mitbekommt.

Könnt ihr nicht gucken?

Unvergessen ist der Mitschüler, der meinen damals besten, schon während der Schulzeit ebenso fotoverrückten Freund und mich fragte: "Ihr immer mit euren Kameras. Könnt ihr nicht gucken?" Ich weiß noch, wie wir uns im Anschluss über die vermeintlich blöde Frage amüsiert haben. Schließlich reklamierten wir für uns doch, ein fotografisches Auge zu haben, dass Dinge viel genauer betrachtet, als es unsere oberflächlichen Mitschüler taten. Inzwischen weiß ich, dass die scheinbar unintelligente Frage gar nicht so doof war, sondern eher zu verstehen im Sinne von "Braucht ihr die Kamera, um die Realität zu genießen?"

Da sitze ich am frühen Morgen auf dem Mount Bromo vor einer fantastischen vulkanischen Kulisse im Licht der aufgehenden Sonne und quäle mich in dem Bemühen, das irgendwie mit meiner Kamera zu erfassen, während meine Begleiter einfach nur still betrachten und genießen. Am Ende habe ich das Panorama fast nur durch meinen Kamerasucher gesehen. Und selbstverständlich sind die Bilder zwar ganz nett und erhalten eine Menge Lob, ich selbst weiß aber, dass sie nur ein jämmerlicher Abklatsch sind, unfähig, die geradezu atemberaubende Realität auch nur annähernd wiederzugeben.

Das alte Portrait-Foto

Was steckt dahinter? Warum fotografiere ich eigentlich? Niemand zwingt mich dazu. Ich weiß, warum. Für mich bedeutet Fotografieren den ganz persönlichen Versuch, das Thema Vergänglichkeit für mich selbst zu verarbeiten. Unglücklich ist nur, dass dies eine gewisse rückwärts gewandte Sichtweise mit sich bringt, die das Erleben des Hier und Jetzt beeinträchtigt. Ich möchte festhalten, dokumentieren, etwas schaffen, das die Realität überdauert und von Situationen, Ansichten, Bauwerken und Personen berichtet, die irgendwann nur noch auf Fotos existieren werden. So, wie bei einem alten Portrait-Foto, dass man beim Besuch eines Flohmarktes findet. Du weißt nicht den Namen der dargestellten Person. Du hast keine Ahnung, wer sie war, wie und wo sie lebte oder wo ihr Grab ist ... und eventuell lebt mittlerweile sogar von denen, die sie kannten, niemand mehr, so dass die Person heute schlichtweg vergessen ist. Aber da ist dieses Foto, und es bezeugt selbst nach 100 Jahren immer noch, dass diese Person gelebt hat und wie sie aussah, und dem aufmerksamen Betrachter erlaubt es sogar Rückschlüsse darauf, was für ein Mensch diese Person war. Ähnliches gilt für Fotos von Gebäuden, die noch Spuren ihrer früheren Bewohner zeigen. Und diese Personen waren nicht anders als wir heute: Sie hatten ihre Lebensziele, ihre Freuden, Sorgen und Nöte. Ich finde das unglaublich faszinierend, und in meinen Augen stellt dieses Bewahren von Gewesenem den ureigensten künstlerisch-dokumentarischen Wert und Sinn von Fotografie dar. 

Ist "entschleunigte" Fotografie die Lösung?

Was hat sich geändert an meiner ganz persönlichen Interpretation des eingangs zitierten Spruchs? Ich habe die Vorteile einer "entschleunigten" Fotografie entdeckt. Ich fotografiere viele meiner Architektur- und Landschaftsmotive in der Abenddämmerung. Das Aufnahmeverfahren bringt es mit sich, dass ich im Zuge der sich verändernden Lichtbedingungen über ein oder zwei Stunden hinweg alle paar Minuten auf den Auslöser der fest positionierten Kamera drücke. Dazwischen warte ich. Und fast zum Zeitvertreib beobachte ich. Und es passieren im Sinne des eingangs zitierten Spruchs tatsächlich Aspekte des ganz normalen Lebens, während ich auf die nächste Aufnahmesequenz warte. Die Umgebung kommt allmählich zur Ruhe. Während das Licht des Abendhimmels in wunderschönen Farbverläufen kontinuierlich in ein tiefes Blau übergeht, ebbt die Lärmkulisse ab und es kristallisieren sich einzelne interessante Geräusche heraus. Hier ein Vogel, dort die Schritte eines Heimkehrers, in der Entfernung noch ein Auto, vielleicht bellt irgendwo auch noch ein Hund. In den Häusern gehen die Lichter an und irgendwann kehrt völlige Ruhe ein. Mir war gar nicht mehr bewusst, dass es in der Natur abends, nachdem die tagaktiven Tiere sich zurückgezogen haben, einen kurzen Zeitraum gibt, in dem völlige Stille herrscht, bevor die nachtaktiven Tiere sich zu regen beginnen. Und Natur ist überall: zwischen den Häusern, in den Gärten, im Baum an der Straße, im Gebüsch zwischen den Fahrstreifen, überall. Und wenn ich schließlich meine letzte Aufnahme gemacht habe und die Kamera einpacke, habe ich über ein oder zwei Stunden völlig stressfrei ganz alltägliche, profane Dinge wahrgenommen, die mir sonst im hektischen Tagesablauf mit seiner Reizüberflutung gar nicht aufgefallen wären. Ich finde das sehr entspannend.

Leben ist, was sonst noch passiert, während man auf gutes Licht wartet. Aber ich muss als Fotograf nicht außen vor sein. Meine Fotografie gibt mir die Möglichkeit, unbeteiligter Beobachter zu sein und das mich umgebende, völlig profane Leben in einer Intensität wahrzunehmen, die alles andere als langweilig ist, während meine (vorher geplante) Aufnahme fast beiläufig entsteht. Der Schlüssel ist für mich Entschleunigung bzw. die Zeit, ... Zeit für Fotografie, ... ganz im Sinne des Mottos dieser Webseite. 

Strassenszene bei Nacht. Nikon D4, 2,8/28-70 mm, Foto: Klaus Schoerner

Copyright 2017 by Klaus Schörner / www.bonnescape.de


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Kommentare: 4
  • #1

    frankus (Samstag, 28 Oktober 2017 11:14)

    Kann ich nachvollziehen. Ich erkenne mich teilweise wieder in deiner Schilderung. Nur meine Triebfeder ist anders. Bei mir ist das mehr Hobby ohne Druck etwas festhalten zu müssen und macht mir einfach Spass. Mich würde mal interessieren, warum machst du keine Videos? Die können Vergängliches noch realistischer festhalten.

  • #2

    Dani (Samstag, 28 Oktober 2017 16:40)

    Ich kenne das mit dem verdammten Qualitätsanspruch. Mit Zeug belasten tue ich mich aber nicht. 1 Kamera, 1 Objektiv, that‘s enough. Aber immer mit dabei.
    Liebe Grüße
    Dani

  • #3

    Klaus (admin) (Sonntag, 29 Oktober 2017 11:37)

    @frankus: Wenn ich auf Videos umsteige, würde ich bedauern, nicht zur gleichen Zeit fotografieren zu können. Beides seriös zur gleichen Zeit zu tun, ging bisher nicht. Interessant sind allerdings die neuesten Kameramodelle, deren hohe Video-Auflösung es erlaubt, aus dem Bilderflow Einzelaufnahmen in akzeptabler Auflösung zu extrahieren. Beim Filmen hätte ich allerdings auch die Sorge, dass ich im Sinne einer Ergebnisoptimierung zu sehr Regie führe und die Situation dadurch beeinflusse, während meine Einzelaufnahme als Momentausschnitt häufig unbemerkt bleibt.

  • #4

    Klaus (admin) (Sonntag, 29 Oktober 2017)

    @Dani: ... nur ein Objektiv? Respekt! ... wenn's nicht gerade ein Super-Zoom ist ;-) Das kann eine sehr konzentrierte Sichtweise unterstützen, mit perfekter Handhabung dieser einen betreffenden Brennweite. Ich habe dabei immer die Sorge, nicht für alle Motive gewappnet zu sein.
    LG, Klaus